»Wie man seine ganze Karrierekraft entfaltet«

  • 18.09.2019
  • von Gastautor*in
Jörn Hendrik Ast schreibt über Transitionsprojekte, die nicht in eingestaubten Kickertischen enden ...
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Reine Methodenhörigkeit führt direkt in die Hölle des New Work: verstaubte Kickertische, leere Yogakurse und vergammelte Obstkörbe. Doch worauf kommt es denn nun an bei der inneren, neuen Arbeit?

Als fleißige mittwoch.online Leser*innen und Mitglieder der Les Enfants Terrible Community wissen wir, dass Transitionsprojekte für Organisationen unbedingt den Menschen und dessen Bedürfnisse einbeziehen sollten. Was so eingängig klingt, ist dennoch nicht so einfach umzusetzen.
Wie erkenne ich die eigenen Wünsche und Charakterstärken? Wann kann ein Unternehmen seine Angestellten unterstützen? Ich freue mich als langjähriger Karriereocach und Organisationsentwickler ein paar grundlegende Antworten darauf geben zu können.

Die Entfesselung von inneren Potenzialen und die Entdeckung intrinsischer Motivation können mit großer Sicherheit als Heiliger Gral der Personalentwicklung bezeichnet werden. Oft erlebe ich in Unternehmen, dass stattdessen lieber an komplexen Prozessen zur Entwicklung einer Innovationskultur oder ein ressourcenfressender Visions-/Missions-/Strategie-Workshop ausgearbeitet wird. Ein vermeintlich sicherer Boden, der nur aus einem Grund wählbar ist: die Angst vor diesem Heiligen Gral.

Illustration: Marie Sann

Als Mensch ganz da sein dürfen 

Dass wir als Menschen ganz da sein dürfen auf der Arbeit ist in vielen Branchen heute noch undenkbar. Stattdessen tragen wir Masken der Professionalität. Wir gehen so auf in einem Kreislauf aus “tätig sein und gebraucht werden”, dass wir zu selten bei uns selbst und unseren Bedürfnissen ankommen. Unsere inneren Dialoge sind wirklich gut trainiert auf dieses “tätig sein und gebraucht werden”.

Wenn ich meinen Coachees in den Karriereworkshops, die ich gebe, zuhöre, dann höre ich die Stimmen ihrer Chefs und Kollegen, wenn sie über ihre Zweifel und Ängste sprechen: “Was willst du denn, du hast doch alles was du brauchst?” oder “Wer erlaubt dir denn glücklich zu sein mit deiner Arbeit?”. 

Doch das große Dilemma ist: wir können nicht halb da sein auf der Arbeit, sondern nur ganz. 

Als Hundebesitzerin macht es mich todunglücklich, wenn ich mein geliebtes Tier nur nach Feierabend sehen kann und die Extrameile (aka Überstunde), die als angehende Führungskraft von mir gefordert wird, gibt mir den Rest. 

Unter der Woche von Hotel zu Hotel zu ziehen und den eigenen Sohn nur aus dem Zug heraus per Facetime beim Aufwachsen und Einschlafen zuzusehen, gibt mir als Führungskraft keine innerliche Kraft – im Gegenteil. Klar, der eine Monat Elternzeit kommt schon, aber danach verschwinden Vatergefühle ja nicht einfach so.

Illustration: Marie Sann

Ich spüre schon aufwallende Gegenargumente à la “Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps” oder die provokative Frage: “Was sollen wir denn dagegen machen?” Aber es geht hier nicht hauptsächlich um den Office-Dog oder darum, dass auch Väter Elternzeit nehmen dürfen. Diese zwei Fälle sind ja nun glücklicherweise in vielen Büros Realität und werden es immer mehr.

Mir geht es um etwas Ursächlicheres; die Fähigkeit, seinen Gefühlen und Wünschen Ausdruck zu verleihen in Bezug auf Berufs- und Privatleben. Denn statt innere Klarheit darüber zu erlangen, was wir wirklich tun wollen, lassen wir uns ablenken und sind so nur halb da.

Das schadet nicht nur einem selbst, sondern natürlich ist es auch für Transformationsprojekte schädlich, denn die benötigen die volle Aufmerksamkeit und Mitwirkung der beteiligten Personen.

Als Mensch ganz da sein wollen

Also lasst uns ganz da sein im Büro mit unseren Kolleg*innen und Vorgesetzten. Trauen wir uns? Durch diese Frage kommt jetzt schon wieder ein Problem auf uns zu; viele Menschen wollen nämlich gar nicht ganz da sein auf der Arbeit. Eine Frage, die mich seit vielen Jahren in meinem Job beschäftigt: Was befähigt Menschen überhaupt dazu, ihren vollen Fokus zu geben? Meine Antwort auf diese Frage, die ich seit fünf Jahren mit Workshopkonzepten, Büchern und sogar einem eigenen Karrieretest fülle, lautet: Nichts motiviert mehr, als die Sicherheit und die Bestätigung der eigenen Person.

Illustration: Marie Sann

In dem Moment, in dem ich “mein wirklich authentisches Selbst” bin, kann ich überall zu meinen Stärken, zu meinen Schwächen und meinen Wünschen stehen. Ich weiß, was ich kann und wohin ich will. Die Ausrichtung auf die eigene Selbstwirksamkeit ist im Grunde auch die Antwort auf die schwere Frage nach meinem Potenzial und meiner Motivation. Menschen, die  in der Lage sind, klar auszudrücken, was sie können, finden zu ihrer Karrierekraft. Für mich hat das etwas sehr Erhebendes, ja geradezu Feierliches. Denn damit ist die schwierige Suche, danach, was mich grundlegend antreibt, erst einmal vorbei.

Natürlich hört sich das ziemlich nach Life- und Karrierecoaching an. Aber ich kann als Autor und Coach-Preneur ja nicht aus meiner Haut und ich brenne wirklich für dieses Thema. Denn nichts ist schöner als die strahlenden Augen von Menschen, die erkennen, dass sie gebraucht werden und was sie können. 

Um zu meiner Einleitung zurückzukommen: eine Arbeit an der Kultur eines Teams oder womöglich eines ganzen Unternehmens ist nur möglich über die Menschen, die dort arbeiten. Unternehmenskultur ist das gemeinsame Erleben von Selbstwirksamkeit, wenn wir etwas zusammen geschaffen haben. Im Grunde ist Kultur wie die Patina auf einem Küchentisch, an dem Generationen von Familien Frühstück essen.

Kultur ist nicht diktierbar, sondern muss gelebt werden. Und um Menschen für eine Vision zu interessieren, sie für eine Mission zu gewinnen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, braucht es Menschen, die wissen, warum sie mitmachen sollen und was sie dazu beitragen können. Ich möchte die wichtige Arbeit an diesen Dingen nicht in Frage stellen, sondern nur die Frage nach dem Reifegrad einer Organisation aufwerfen, die in einen solchen Veränderungsprozess hinein geht.

Illustration: Marie Sann

Die Heldenreise zur Transition

Leider komme ich also wieder zurück zur Angst. Denn wenn wir es nicht schaffen, unsere Angst vor dem Prozess der Aktivierung unser Selbstwirksamkeit oder Entfaltung unserer Potenziale abzulegen, werden wir diesen Weg nicht wirklich gehen können. 

Nach über zwölf Jahren Arbeit im Bereich New Work bin ich täglich mehr und mehr der Überzeugung, dass die Arbeit an unserer Karrierekraft, die Arbeit an uns als Kolleg*in, Mitarbeiter*in und Mensch der Schlüssel für die erfolgreiche Umsetzung neuer Methoden ist.  Die Agilisierung einer Unternehmung oder die Unterstützung selbstorganisierter Teams braucht echtes Interesse an diesem Entwicklungsprozess – nicht nur bei Führungskräften. Selbstredend gehen diese aber mit gutem Beispiel voran und fangen bei sich selbst an.

Dass man diesen Schritt nur schwer aus eigener Kraft gehen kann und die Hilfe von externen Coaches eine große Unterstützung darstellt, sind ebenfalls meine festen Überzeugungen. Wichtig dabei ist es, eine individuelle Strategie zu erarbeiten, die zu der vorhandenen Kultur oder manchmal auch Unkultur passt. Denn interne Mitarbeiter scheitern schnell an der Barriere des vererbten Verhaltens ihrer Kollegen.

Wie stark der Impuls ist, den alten Weg beizubehalten oder sogar dazu zurückzukehren, wird sehr deutlich, sobald die Transition beginnen soll. Diese künstliche Krise, in die ein Unternehmen gestürzt wird, löst starkes Abstoßungsverhalten bei den Mitarbeitern aus. Die meisten Projekte, die ich gesehen und begleitet habe, überstehen diesen ersten Schritt nicht. Das ist natürlich schade, denn erst wenn der anfängliche Widerstand überwunden ist, kommt ein Transitionsprojekt so richtig in Fahrt. Ich drücke diese Roadmap zur Transition gerne in den “vier großen Schritten der Heldenreise” aus, die auch meinen Büchern und Workshops als Methode zu Grunde liegt:

  1. Abyssos: die Überwindung der eigenen Zweifel und Ängste
  2. Metamorphose: das Begreifen der eigenen Karrierekräfte
  3. Agon: der Kampf gegen den Endgegner
  4. Lysis: Meister*in der zwei Welten werden

Über den ersten Schritt habe ich ausführlich in diesem Artikel geschrieben: es ist die initiale Weigerung der Helden, den Schritt in Richtung Veränderung zu gehen.

Die fruchtbare Auseinandersetzung mit diesen Ängsten und Zweifeln legt den Grundstein für die Metamorphose, der Erkenntnis der eigenen Karrierekräfte. Hier lernen sich Teams im Kontext agiler Arbeitsweisen neu kennen, das Norming der Teamphase wird intensiv bearbeitet. Der dritte Schritt der Transitions-Heldenreise ist der Kampf gegen den Endgegner, der Kampf der Helden mit dem Drachen, dem Bösewicht. Damit ist mitnichten der Kampf gegen die Konkurrenz oder den Endgegner Digitalisierung gemeint. Es gilt auch hier in die Introspektive zu gehen. 

Der Kampf gegen den inneren Endgegner der Transition eines Unternehmens wird oft geführt, wenn grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen, zum Beispiel weitreichende Freigaben oder Veränderungen im Management. Zum Schluss steht der Übergang in die neue Welt an. Durch die intensive Reise sind alle Fähigkeiten der Helden da, diese Welt schlussendlich auch zu betreten. Man wird Meister*in der zwei Welten, hat die alte und die neue Welt gesehen und findet sich in beiden zurecht. Hier fällt dann ein Loslassen der alten Welt auch nicht mehr schwer, denn die Vorteile der neuen Welt überwiegen und sind überzeugend.

Sind wir also bereit dazu, ganz da zu sein und uns den Ängsten und Zweifeln zu stellen? Die Belohnung ist viel größer als über gescheiterte Transitionsprojekte in der Kaffeeküche zu lästern. Aus dem Satz mit schnippischem Unterton “Wir sind ja jetzt agil, aber…” wird ein selbstbewusstes “Seitdem wir so arbeiten, können wir endlich…”. Und ganz nebenbei tun wir etwas für unser ganz persönliches Wachstum als Mensch.


Credits: Gregory B. Waldis

Jörn Hendrik Ast ist Gründer der New Work Heroes GmbH und Autor mehrerer Bücher, wie dem Arbeitsbuch für Karrierehelden. Als Organisationsentwickler ist er erfahren in Methoden wie Scrum, Design Thinking und Lean Startup. Mit der Karriereheldentypologie entwickelte er ein eigenes stärkenbasiertes Modell für Teambuildings und Führungskräfteprogramme in Transitionsprojekten.

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