»politik radikal neu«

  • 16.06.2021
  • von Marion King
Auch eine Erkenntnis der vergangenen Monate: Wir brauchen dringend Parteien, die im ernsthaften Kontakt mit den Menschen sind und die wirklichen Probleme unserer Zeit vor allem langfristig angehen. Wir sprechen mit Hanno Burmester über sein neuestes Buch und darüber, wie eine solche Partei aussehen müsste ... (Lesezeit: 8 Minuten}
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Wir erinnern uns an den heiteren Nominierungsklamauk rund um Markus Söder und Armin Laschet? Ja, wer macht es denn nun? Wer bringt denn zwei Punkte mehr in den Umfragen? Und jetzt wird Annalena Baerbock in Grund und Boden gedisst, weil sie in ihrem Lebenslauf ungenaue Angaben gemacht hat. Das ist das, was von der Politik im 21. Jahrhundert am meisten in der breiten Öffentlichkeit sichtbar ist.

In seinem vielgelobten Buch „Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt: Warum wir Politik radikal neu denken müssen“ skizziert Hanno Burmester eine Parteienlandschaft, die tatkräftig und nachhaltig die großen Herausforderungen unserer Zeit angeht. Ohne Machtkampf, mit einem Blick auf die Themen selbst und den Anspruch: Durch Taten überzeugen. Marion sprach mit ihm über diese Partei und darüber, wie wir selbst etwas beitragen können.

Hanno, was läuft schief mit unserer Politik?

Im Kern vor allem eins: sie findet keine langfristigen Antworten auf die großen Themen unserer Zeit. Der politische Betrieb ist absorbiert im taktischen, tagespolitischen Klein-Klein der Trippelschrittpolitik. Was zu kurz kommt, ist die Arbeit an wirksamen Zugängen zu den Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte: Klimakrise, die globale soziale Krise, ökologische Zerstörung. 

Du sprichst in Deinem Buch über Liebe und Hoffnung – im Kontext von Politik und Parteien. Diese Haltung oder dieses Gefühl fällt vielen Menschen im Moment wahrscheinlich nicht ganz so einfach…

Ja, das kann sein. Aber schlussendlich haben wir ja selbst in der Hand, ob wir Liebe und Hoffnung in uns kultivieren oder Hass und Angst. Die Partei, die wir skizzieren, soll einen Container bieten für Politik, die ersteres befördert. Eine politische Organisation, die Rahmenbedingungen setzt für langfristig wirksame politische Arbeit – in einem menschlichen Umfeld, das Zusammenarbeit und gemeinsames Wachstum ermöglicht. 

Wie wäre denn eine Partei, in der Du gerne Mitglied sein würdest?

Ich bin ein schwer integrierbares Tierchen, deshalb ist es heikel, mir diese Frage zu stellen. Ich denke aber, dass ich im Kern eine ähnliche Sehnsucht habe wie Millionen andere auch. Nach politischem Engagement, das nach echten Lösungen und neuen Ideen sucht, anstatt sich in Scheinkämpfen zu erschöpfen. Nach Zusammenarbeit, die radikal die gemeinsame Sache in den Vordergrund stellt, nicht die Befindlichkeiten einzelner Egos. Nach Strukturen, Prozessen und Arbeitsweisen, die zeitgemäße Arbeit auch im Ehrenamt erleichtern und nicht erschweren. 

Was wären denn konkrete Maßnahmen, um eine bestehende Partei umzukrempeln?

Zuvorderst, dass ich mir als engagierter Mensch aussuchen kann, wo ich mich wie einbringe. Also unabhängig zu werden vom Wohnort – und weg vom stumpfen Zweiklang Mitglied oder Nicht-Mitglied. Es gibt viele gute Arten, wirksam aktiv zu sein. Wieso gibt es nicht entsprechend viele Rollen, aus denen Aktive wählen können? Dazu braucht es dringend, dringend mehr Herzblut, Expertise und Geld für zeitgemäße Prozesse und die permanente Weiterentwicklung der Organisation. Inklusive ernst gemeinter Entwicklungsangebote für diejenigen, die den Laden tragen, von der Führung bis zum punktuell Engagierten. Viel mehr dann im Buch, zwei Drittel gehen ja genau um diese Frage, von Purpose über Kultur bis hin zu Geld. 

Du sagst in Deinem Buch, dass die Politik aktuell eher den Fokus auf inkrementellen Veränderungen, also kleinen Schritten und hier und da schrauben hat; es aber eine Veränderung des Rahmens hin zu transformativer, also grundlegender Veränderung braucht. Glaubst, dass die Begrenzung auf Amtszeiten und Wiederwahl-Gedanken dieses langfristige und ganzheitlich umfassende Denken, Planen und Handeln verhindern – oder was ist es denn, was es so schwierig macht? Wir haben ja sehr schlaue Menschen in der Politik, die ja auch selbst Bürger*innen und Privatmenschen sind.

Das stimmt, das haben wir. Und mir ist sehr wichtig, die Arbeit dieser Menschen zu würdigen. Gleichzeitig gilt: nur wenn wir unsere Intelligenz und Fähigkeiten wirksam im Sinne des größeren Ganzen einsetzen, sind sie in der Politik gut aufgehoben. Ansonsten sind sie verschwendet. Die zukunftsfeindlichen Strukturen heutiger Politik dürfen keine Ausrede sein, sich den Selbstzweckdynamiken des politischen Spiels zu unterwerfen.

Politiker haben aus meiner Sicht die große Verantwortung, ihr Handeln, ihre Haltung, ihre Prioritäten laufend kritisch zu überprüfen: mache ich das, was das Spiel mir nahelegt? Oder tu ich das, was Sinn macht? 

Ja, es gibt es viele, viele Anreize in politischer Kultur und Struktur, die Menschen in der Politik eine langfristige Lösungsorientierung massiv erschweren. Die Frage ist jetzt, wie wir richtige Prinzipien – die zeitliche Begrenzung und Kontrolle von Macht, der Zwang, sich immer wieder von den Wählerinnen und Wählern legitimieren zu lassen – um Prinzipien ergänzen, die die Sache vom Kopf auf die Füße stellen. Beispiele: wie gelingt ein wirksamer Nachhaltigkeits- und Langfristigkeits-Check für alle Gesetze und Verordnungen? Sollten wir Reformen, die massive Auswirkungen auf kommende Generationen haben, in die Hände von Bürgerräten legen? Hier müssen wir als Gesellschaft intelligente Ideen finden und umsetzen. 

Wir alle wissen, wie schwer uns Veränderungsprozesse fallen können – im Privaten, in den Unternehmen. Wie kann grundlegende Transformation stattfinden? Was braucht es dafür?

Viele unterschiedliche Hebel. Und um diese Hebel zu finden und effektiv anzusetzen, braucht es vor allem eins: den klaren politischen und gesellschaftlichen Willen, etwas Grundlegendes zu verändern. Solange diese Intention fehlt, können wir weiter viel reden und es wird weiter wenig passieren. 

Glaubst Du, es braucht einen radikalen Wandel des gesamten politischen Systems, der Demokratie, wie wir sie haben? Und wenn ja, wie würde das gehen?

Ich glaube, wir brauchen die Bereitschaft, das gesamte System kritisch anzuschauen – und dann die entscheidenden Stellen zu finden, die wir verändern müssen, um das Gesamte in eine positive Richtung zu bewegen. Es braucht also die Bereitschaft zum inkrementellen Radikalismus, wenn Du so willst. Wer nach der Revolution ruft – der Kompletterneuerung also – bewegt der historischen Erfahrung nach in der Regel gar nichts. 

Wer mehr Input dazu will: in meinem neuen Buch “Unlearn. A Compass for Radical Transformation” schreibe ich im dritten Teil des Buches quasi nur über diese Frage. Das mag jetzt bequem klingen, aber in dem Buch ist ein bisschen mehr Platz für dieses komplexe Kistchen als in unserem Gespräch. 

Gibt es Beispiele in anderen Ländern, die Du gut oder spannend findest?

Ja, gibt es. Viele sogar. Je nachdem, auf welchen Bereich man schaut, gibt es viele spannende Beispiele, die im Kleinen und Großen zeigen: es geht grundsätzlich anders. Von Irland über Finnland und Neuseeland bis hin zu Japan. Auch in Deutschland gibt es einige interessante Beispiele, aber im Kern bleibt das Fazit: wir hängen auch hier sagenhaft hinterher, auch mit Blick auf die Innovation und Transformation von Demokratie und Staat. 

Umso wichtiger, dass wir jetzt nicht in den Best Practices hängen bleiben. So nützlich das ist: das koppelt einen immer an den Status Quo. Aber gute Ideen, die andere kopieren können, müssen ja irgendwoher kommen. Erfolgsmuster kopieren ist also nur das Eine. Genauso wichtig ist, dass wir den Mut haben, Visionen und Ideen für radikale Reformen zu entwickeln, die es noch nirgends anders gibt. 

Tipps…

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Wie geht es Dir denn persönlich mit der Veröffentlichung des Buches? Du bist ja viel in Diskussionsrunden im Moment; wirst interviewt und zitiert. Fühlst Du Dich verstanden, mit dem was Du sagen und vielleicht auch erreichen willst? Was begegnet Dir an Diskussion?

Ach, das kommt sehr auf den Kontext an. Es gibt viele Zirkel, in denen ich offene Scheunentore einrenne mit dem Buch. An mancher Stelle gibt es im Kleinen ja auch schon Beispiele für den Versuch, anders Politik zu machen – da schließe ich leicht an und gebe hoffentlich ein paar nützliche Ideen und Zugänge an die Leserinnen und Leser weiter. 

Im etablierten parteipolitischen Raum ist es etwas verwaschener. Da sagen inzwischen fast alle Ja zu Veränderung und haben mehr Bereitschaft als noch vor wenigen Jahren, über grundlegenden Wandel zu sprechen. Immerhin. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Schluss nur eines einen Unterschied macht: konkrete Taten. Und die sehe ich seit Jahren nicht ausreichend. Deshalb bin ich eher zögerlich, wenn ich hier meinen Optimismus anknipsen soll. 

Auf Deiner Webseite steht “Hanno Burmester ist Übersetzer zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.”. Das ist eine ganz schön große Aufgabe – finde ich. Wie siehst Du Deine Rolle und wie gehst Du damit um?

Finde ich auch. Und genau so sehe ich meine Rolle. Ich bin seit Jahren in diesen unterschiedlichen Welten unterwegs und stelle immer wieder fest: die reden zu wenig miteinander. Wenn sie miteinander reden, verstehen sie sich nicht. Mein Beitrag besteht darin, das durch meine Worte und Taten zu verändern. Ist das eine große Aufgabe? Klar. Aber wir können aus meiner Sicht nicht weiter andauernd über die großen Herausforderungen reden und uns dann nicht zutrauen, etwas Großes zu ihrer Lösung beizutragen. 

Woher kommt Dein Antrieb, die Welt zu verändern? Du bist ja auch Teil unserer Les Enfants Terribles-Community – und das sehr zu Recht. Warst Du schon immer ein Enfant Terrible? Und was braucht ein (gutes) Enfant Terrible Deiner Meinung nach?

Der kommt aus mir und ist tagesformabhängig. Ich beschäftige mich gerade viel mit der Frage, was ich in den kommenden Jahren bewirken will und welche Aufforderung an mich selbst in dieser Intention steckt. Das ist also innere Arbeit, und die brauche ich laufend, um nicht stehenzubleiben und mich einem bequemeren Leben hinzugeben. Ob die Welt dann am Ende meines Leben sagt: Hanno war ein echtes Enfant Terrible und hat gut was gerissen in der Zeit, die er hatte – das schauen wir dann. Taten statt Worte!

Wenn jetzt jemand sagt, er*sie möchte einen Beitrag leisten, die Welt verändern: macht es Sinn, dann einer Partei beizutreten? Was ist der richtige “Ort”, was würdest Du empfehlen? 

Es gibt ganz viele Orte, an denen wir etwas Wesentliches beitragen können. Welcher Ort das ist: das muss jeder Mensch selbst rausfinden. Wichtig ist nur, dass wir das tun. Und dann mit klarer Intention und Haltung auf Veränderung hinwirken, die etwas verändert. Und sei es dadurch, dass wir an entscheidender Stelle mit den Spielregeln brechen, die bislang gelten. 


Foto von Hanno Burmester

@Julian Baumann

Hanno Burmester ist seit vielen Jahren in Wirtschaft und Politik unterwegs. Er ist Policy Fellow im Progressiven Zentrum und Fellow bei JoinPolitics. Als Gründer der internationalen Innocracy-Konferenz arbeitet er seit vielen Jahren zur Frage, wie sich die Demokratie transformieren muss. Mit seiner Firma Unlearn unterstützt er national und international Unternehmen dabei, Führung und Zusammenarbeit neu zu organisieren. Hanno ist Autor mehrerer Bücher und lehrt systemische Organisationsentwicklung am isb Wiesloch. In der Vergangenheit hat er im Deutschen Bundestag, einem Parteivorstand und als investigativer Journalist (NDR) gearbeitet. Mehr unter www.hannoburmester.com

Eine Anmerkung zu unseren Buchempfehlungen: wir sind sehr dafür, dass Bücher beim kleinen Buchladen um die Ecke oder auch bei Shops wie Buch7 (die mit 75% ihres Gewinns soziale Projekte unterstützen) gekauft werden. Wir benutzen hier aus praktischen Gründen Links zum Amazon-Shop, weil wir dann u.a. die Buchtitel im Rahmen des Partnerprogramms zeigen dürfen. Das heisst noch nicht, dass Ihr darüber auch bestellen müsst, aber wenn Ihr das tut, verwenden wir die Einnahmen daraus (5% auf jede Bestellung) für die Community-Arbeit von LES ENFANTS TERRIBLES.

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