»systemisch denken«

  • 14.06.2022 (aktualisiert)
  • von Gastautor*in
  • Lesezeit: 6 Minuten
Unsere Gastautorin Reni Meyza wirft einen philosophischen Blick auf das systemische Denken und zeigt, wie wir im Raum der Möglichkeiten nicht verloren gehen. Eine Inspiration für alle, die Neues für sich entdecken wollen ...
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Wenn wir etwas erkennen, strukturieren wir die Welt immer nach unserem Bild. Jedes Bild, dass wir uns von der Welt machen, entsteht an den Grenzen unseres Denkens. Wir untersuchen, erforschen, entdecken, strukturieren und erklären uns die Komplexität der Weltbeziehungen je nach Anlass, Umstand, Bedarf und Erfassungsvermögen.

Wir setzen Zusammenhänge, verknüpfen sie zu Systemen, Konzepten und schreiben ihnen eine Gültigkeit zu. Wir bauen unser Weltbild auf bestimmten Grundannahmen auf, an deren einem Ende die Gefahr droht in Starrheit zu verfallen, sich in unlösbarer Angebundenheit an bekannte Gedankengebäude zu klammern. An derem anderen Ende steht die totale Auflösung; in nicht mehr zu erfassender Wirklichkeit zu taumeln, ob der Schnelligkeit der Bewegung mit der die Weltannahmen ihre Gültigkeit verlieren und es keine Rahmenbedingungen mehr gibt, in denen man sich verorten könnte.

Man kann den Mensch nicht aus dem Mensch nehmen.

Konzepte geben Sicherheit und schaffen Orientierung. Sie bedienen das Grundbedürfnis, sich in der Welt verorten und sich als Teil von ihr überhaupt erst wahrnehmen zu können. Ohne sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen, gäbe es keine.

In der Frage nach der Gültigkeit der für wahr-genommenen Wirklichkeit, liegt die Freiheit eines jeden Menschen – gegeben durch sein Denken und die Fähigkeit, dies verändern zu können.

Wie aber gehen wir mit der Freiheit und den Grenzen unseres Denkens um? Und wo lernen wir mit unserem eigenen Denken vertraut zu werden?

Für alle Erkenntnisse und bisher gedachten Gedanken, für alle gemachten Versuche, muss im Grunde gelten: Weder gibt es einen festen Fundus dieses Wissens, noch ist unser Lernvorgang an ihnen je abschließbar. Einsichten und Erkenntnisse haben stets Prozesscharakter.

Denn: Wir können jede Erkenntnis nur auf Grund einer vorherigen Erkenntnis machen. Nur vom jetzigen Erkenntnisstand aus können wir unsere Fragestellung an das Leben und seine Tatsachen herantragen. Dies gilt sowohl für qualitative, als auch für quantitive Erkenntnisse. Das Werden und Vergehen unserer Weltsicht ist und bleibt ein Prozess auf persönlicher, gesellschaftlicher, kultureller, globaler und universeller Ebene.

Wer wären wir,
wenn wir dies nicht sind?

Neue Möglichkeiten müssen für möglich gehalten werden.

Am Anfang jeder Entdeckungsreise in neue Gefilde steht die Annahme, dass eine Ent-deckung oder Ent-wicklung überhaupt möglich ist und gemacht werden kann. Ohne sich selbst die Erlaubnis zu geben, dass es hinter der Grenze des bisherigen Denkens und Erfahrungshorizontes überhaupt noch einen Raum gibt, den man nicht kennt, werden sich einem keine neuen Möglichkeiten erschließen.

Bekannte Grundannahmen müssen in Frage gestellt werden dürfen.

In dieser Bereitschaft des “In-Frage-stellens” allerdings liegt auch ein Wagnis. Es setzt die Bedingung voraus, das Risiko eingehen zu können oder zu wollen, dass sich einige, eventuell aber auch alle bisherigen Erkenntnisse bekannter Denkstrukturen, die eventuell ein Selbstverständnis innerer und äußerer Weltannahmen lange geprägt haben, als überfällig oder hinfällig erweisen.

Ich muss die Begrenztheit meines Wissens akzeptieren – gültigen Konzepten und Strukturen die Erlaubnis geben, sich auflösen und verändern zu können, oder gar ganz verworfen zu werden. Dem Zustand der Un-gewiss-heit muss ich mich freiwillig aussetzen wollen. Impulse wie Neugier, Entdeckergeist, Forschungsdrang, Freude am Experiment, spielerische Lust am Erkunden neuer Möglichkeiten sind nur einige der Leitprinzipien, die Veränderung intrinsisch motiviert generieren.

Ebenso kann ein Um-denken, ein “In Frage stellen” bekannter Denk,- und Handlungsmuster, seinen Ursprung in der Not-wendig-keit haben.

»When do we change? When we have to.«

Zu Veränderung werden wir oft erst durch jene Situationen aufgefordert, in denen unsere tief verinnerlichten Imperative, unsere lange schon wie selbstverständlich gelebten Annahmen über das “So-Sein-Sollen” der Wirklichkeit oder das sich “So-Verhalten-Müssen” in der Welt, in Konflikt mit den Annahmen, mit den Gedankengebäuden eines anderen Menschen, geraten. Getrieben durch das existenzielle Bedürfnis Verbindung herstellen und halten zu können – mit anderen Menschen, mit der Welt im Austausch und ihren Bewegungen im Einklang zu sein, bieten Konflikte dieser Art einen starken Impuls, um Veränderung oder im Keim – den Wunsch danach – anzustoßen.

Das Wort Not-wendig-keit selbst tut kund, dass es eine Not gibt, aus der heraus eine Wendung erforderlich ist. Es ist ein Punkt erreicht, in dem das uns bekannte Bild der Wirklichkeit nicht mehr haltbar ist und dienlich, nicht mehr trägt als ein sicheres Fundament. Die Architektur der uns vertrauten Gedankengebäude, die uns eine lange Zeit über sichere Umgebung geboten hat für die in ihnen stattfindenden, eingespielten, durchgetakteten Prozessabläufe gelebter Wirklichkeit, kann sich ebenso plötzlich als eine dysfunktionale Struktur herausstellen, deren Grenzen die Entfaltung eines Entwicklungs,- und Begegnungspotenzials verhindern oder einengen.

Fakt ist, je fester Strukturen sind, desto länger dauert es sie aufzulösen.
/ Im Prozess steckt die Arbeit.

Neue Räume zu betreten bedeutet eben auch alte verlassen zu müssen, oder eben die jeweilige Auseinandersetzung und Anstrengung in Kauf zu nehmen, die es braucht, Räume an ihren Grenzen auszudehnen, um sie zu erweitern. Dieser Umstand ist in seiner Tatsache absolut.

»Nur dass es nicht immer die Zustände sind, die sich einander reinlich ablösen – sondern oft ein tiefer Zwiespalt wirr verschlungenen Geschehens.«

(martin buber)

So sehr wir nach (Ein)ordnung streben, um Sicherheit zu generieren, in der wir uns verorten können, so sehr wir Grenzen brauchen, die uns Halt geben, so sehr wir sie sprengen müssen, um uns zu entfalten – kein Zustand, kein je gedachter Gedanke und keine je getroffene Annahme über die Welt, über dich und mich, ist uns mit einem Anspruch auf absolute Gültigkeit und absolutem Wahrheitsgehalt geschenkt.

Wandel ist unsere lebendige Natur. Wenn wir diese erhalten wollen, scheint es sinnvoll sie verstehen zu können.

Nehmen wir als Beispiel den “großen Wandel”, von dem heute die Rede ist. Jener, der sich global durch die ökonomische Landschaft zieht. Jener, der – durch die hohe Frequenz technologischen Fortschritts – die Liberalisierung öffentlicher Ordnungen jeglicher Gesellschaftsformen in bisher unbekannter Schnelligkeit Neustrukturierungen ermöglicht wie abverlangt. Sollte man nicht vergessen, sich zu vergegenwärtigen, dass eben dieser Wandel an sich ein elementares Wesensmerkmal universeller Gestaltung darstellt?

Wandel ist kein plötzliches Phänomen, ganz gleich wie sehr er viele von uns immer wieder überraschen mag. Je mehr wir uns jedoch verleiten lassen, aus dem unserem menschlichen Bedingtsein entspringenden Sicherheitsbedürfnis heraus in einen herrischen Kontrollmechanismus zu verfallen, desto stärker und überraschender trifft uns jegliche Ausprägung von Veränderung und Wandel.

Leben ist ein hochkomplexes und vor allem ein hochlebendiges System, in dessen Wesen die Veränderung, der Wandel, die Transformation – das Werden, Wachsen und Reifen zu Höherem, der Zerfall und Rückschritt zu Niederem, das Vergehen, Verwesen, das Zerstören, Aufeinanderprallen, Explodieren und Implodieren jeglicher physischer und psychischer Architekturen – ein eingeschriebenes Gesetz ist.

Als Menschen sind wir alle durch Geburt in einen Kreislauf von Werden, Wandlung und Vergehen eingeschrieben. Nichts darin kann sich nicht bewegen oder einen Prozess durchmachen. Kein Sein ist statisch, sondern als ewiger Wandel dynamisch zu erfassen.

Dies gilt es zu verinnerlichen und in die geistige Matrix, mit der wir ein jegliches Bild vertrauter Wirklichkeit, mit der wir ein jegliches (Welt)geschehen betrachten, zu integrieren. An unserem Denken entscheidet sich, wie wir leben und unsere Welt einrichten.

Wir wohnen in der Welt, so wie die Welt in uns wohnt.

Um durch die Herausforderung zentrifugaler Kräfte entstehender und anstehender Weltprozesse – und also durch grundlegend stattfindende, lebenseigene Transformations- und Wandlungsprozesse – nicht aus der Mitte des eigenen Universums geschleudert zu werden, bedarf es eines klaren Bewusstseins für die natürlichen Gegebenheiten der Weltbewegungen.

Diese Bewusstwerdung umschließt die multidimensionale, ganzheitliche Betrachtung innerer, wie äußerer Lebensprozesse. Sie inkludiert somit die anfangs bereits erwähnten individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen, globalen und universellen Bewegungsprinzipien gleichermaßen.

Vielleicht starten wir im Möglichkeitsraum. Damit, dass wir unserem Bild von Wirklichkeit erlauben, eines von vielen zu sein im Kaleidoskop der Zustände.


Das Bild der Wirklichkeit
/ Ich bin Raum
Am Anfang war das Chaos.
Dass ich der Dinge Ordnung bin,
im Wesen des Lebendigseins.

In den engen Grenzen des bekannten Denkens,
in den Möglichkeitsräumen des Unbekannten.
Bleibt nicht dies mein Glück in aussichtsloser Überzahl?

Reni Meyza (Instagram) ist Senior UX/UI Designerin, Agile Team Enabler und philosophische Gesprächsleiterin, auf dem Weg zur systemischen Organisationsberaterin. Sie arbeitet daran, Räume für philosophische Reflexion & gestalterische Experimente als einen selbstverständlichen Bestandteil in unsere Lebens- und Arbeitskultur zu integrieren, um ein tieferes Verständnis für die eigenen Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns zu erlangen und sie um neue Perspektiven zu erweitern. Ihre Workshops & Gespräche laden in einen Raum für Gestaltung ein, in dem bekannte Strukturen und Muster in einem Wechselspiel von intuitivem Machen und analytischem Reflektieren gemeinsam betrachtet, erkundet, hinterfragt und neu ausgelotet werden können.

Ihr könnt sie gerne per Mail kontaktieren: hello@renimeyza.com.

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