»systemische kompetenz für führungskräfte«

  • 21.04.2021
  • von Marion King
  • Lesezeit: 6 Minuten
Ein Austausch mit Nikolai Baumeister zur Masterclass »Systemische Kompetenz« und die rote Pille, die wir schlucken können, um mehr Möglichkeiten in unser Leben zu bringen ...
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Das systemische Knowhow ist für uns eine wichtige Grundlage im „New Work“-Kontext und ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit – v. a. auch in Transformationsprojekten. Es unterstützt auf so vielen Ebenen: von der eigenen Haltung, dem Menschenbild, Werte-Set auf der einen Seite bis zum Verständnis und Umgang mit Komplexität und dem „Begreifen“ von ganzen Systemen auf der anderen Seite. Es gibt so viele tolle systemische Methoden und Tools, die in Zeiten wie diesen hilfreich sind. Deshalb haben wir bei Les Enfants Terribles im Januar diesen Jahres unsere Masterclass »Systemische Kompetenz« gestartet.

Jetzt im Nachgang zu dieser Masterclass habe ich mich mit Nikolai Baumeister noch einmal zu den wichtigsten Aspekten unterhalten. Nikolai ist in der Masterclass – neben der Moderation und der Begleitung der Teilnehmer*innen – vor allem für den inhaltlichen Teil zuständig. Er ist Systemischer Organisationsentwickler und Dozent am Systemischen Zentrum Wispo AG; gleichzeitig arbeitet er im Unternehmen als internationaler Produktmanager und Prozessberater. D.h. er bringt sowohl von der theoretischen Seite jede Menge Knowhow als auch von der Umsetzungsseite im Unternehmen mit.

Nikolai, warum ist “systemische Kompetenz” so wichtig oder relevant für “New Work”? Und was ist “Systemisches” überhaupt, wo kommt das her?

Systemische Kompetenz ist eine Schule des Denkens und Handelns in komplexen Kontexten, des Umgangs mit autonomen Organismen, mit unberechenbarer Lebendigkeit, hilfreicher Haltungen im Erfahrungsspektrum zwischenmenschlicher Interaktionen. Systemtheoretisch informierte Paradigmen sind seit Jahrzehnten wirksam in der Wissenschaft, in Politik und Management, in Psychotherapie, Pädagogik und anderen Feldern. Neben den Systemtheorien ist der Konstruktivismus zu einer Säule systemischen Denkens und Handelns geworden und hier und da sind Beiträge der humanistischen Psychologie prägend. Allerdings widersetzt sich eine systemischere Sicht auf die Dinge gerne solchen staubtrockenen Definitionsversuchen.

Sie lädt uns ein, aus einengenden, reduzierten Auffassungen unserer Umwelt und unserer Möglichkeiten auszubrechen.

Anpassungsfähiges Navigieren in komplexen, volatilen Umwelten, Mediation einer großen Zahl komplementärer Perspektiven und Bedürfnisse, hohe Resilienz von Menschen und Organisationen sind zu Schlüsselkompetenzen in unseren Arbeitswelten geworden. Hier kann eine systemische Ausbildung Antworten anbieten und – noch schöner und genauso wichtig – Wege zu mehr Freude, Menschlichkeit und Sinn in der Arbeit aufzeigen.

Was sind die Eckpfeiler, Grundlagen oder wichtigsten Aussagen der “Systemtheorie”?

Eine größere Frage – und es gibt viele Systemtheorien. In Kürze geht es zunächst darum, das Verhalten von und in komplexen Systemen kennenzulernen. Dazu gehören soziale, wirtschaftliche, psychische Systeme. Hier lassen wir uns auf kontextuelle Bedingtheit, auf zirkuläre Wirkungsketten, emergente Strukturen ein – statt uns auf statische Eigenschaften und Symptome einzelner Elemente zu beschränken.

Das Verhalten komplexer und insbesondere lebendiger Systeme lässt sich im Einzelnen nicht gut vorhersagen und kaum aus den Eigenschaften ihrer Elemente ableiten.

Unsere gut gemeinten und manchmal obsessiven Versuche, ein gewünschtes Verhalten zu evozieren oder zu erzwingen, sind nur begrenzt erfolgreich und können erheblichen Schaden anrichten.

Es lohnt sich dann, scheinbar widerspenstige, irrationale Verhaltensweisen anzuerkennen, ihren Sinn besser zu verstehen und gestalterisch einzubeziehen – anstatt sie zu ignorieren oder zu unterdrücken. Und wenn wir uns ansehen, wie sich aus der Interaktion komplexer Systeme mit uns selbst, ihren Beobachtern, wiederum neue Systeme bilden, dann bekommen wir es mit weiteren Qualitäten zu tun. Soziale und psychische Systeme scheinen im Bemühen um ihre Überlebensfähigkeit nicht nur ganz grundsätzlich nach ihren eigenen internen Regeln und Auffassungen zu spielen – schon durch unsere Vorentscheidungen, was wir überhaupt als System ansehen, wie wir Innen und Außen unterscheiden, formen wir entscheidend unsere Welt und konstruieren übrigens auch unsere kognitiven Lösungsräume – und deren Grenzen.

Philosophisch und wissenschaftlich mag das kontrovers sein, in der Praxis haben solche Überlegungen den Weg von exzentrischen, subversiven Randerscheinungen hin zu anerkannten, wirksamen Handlungskonzepten in vielen Feldern schon lange beschritten und sind in führenden Business-Schulen ebenso angekommen wie in psychotherapeutischen Ausbildungen. Eine der Antworten auf die Gefahr, unterwegs in Beliebigkeit zu versinken, kommt aus der humanistischen Psychologie. Es braucht Vertrauen in Menschen und ihre Entwicklungsfähigkeiten.  

Das erste Modul unserer Masterclass hattest du “Taking the red pill” – in Anlehnung an “Matrix” genannt. Das fand ich erstmal verwirrend, aber es war ganz schnell klar, dass es darum geht, Altes loszulassen, sich in Ungewohntes, Ungeplantes zu begeben. Und dass wir Komplexität zulassen müssen, um zu navigieren. Wir tendieren ja eher dazu, dass wir alles gerne begreifbar und planbar hätten. Wie geht denn Loslassen, sich Einlassen gut?

Ja. Unsere Metapher für den Mut, den es braucht, die Sicherheit gewohnter Auffassungen hinter sich zu lassen, neue Informationsquellen, neue Unterscheidungen anzugehen. In volatilen Umwelten, unter Unsicherheit, mangelnder Information und in multiplen Zielkonflikten zu navigieren, verlangt Mut, Besonnenheit und Reife. Angemessenes Begreifen und professionelle Planung sind da natürlich von großer Wichtigkeit – und ebenso wichtig kann es sein, überforderte Begriffe und Pläne im richtigen Augenblick loszulassen, zu aktualisieren, zu erweitern.

 

Wir sind ganz schnell an den Punkt gekommen, dass es vor allem um Haltung, Haltung, Haltung geht. Das ist immer wieder DAS zentrale Thema – auch bei “New Work”. Was braucht es denn für eine systemische Haltung – oder besser gesagt: gibt es DIE Haltung im Systemischen? Und wie kommt man da hin?

Was es für eine systemische Haltung braucht? Einen offenen Geist und ein offenes Herz. Und die Bereitschaft, immer wieder aufs Neue zu fragen, wer gerade was braucht.

Noch wertvoller als der Schatz an erprobten praktischen Strategien und Werkzeugen, die systemische Ausbildungen vermitteln, sind für viele Führungskräfte, Berater*innen und Coaches die Verkörperung hilfreicher, gesunder Einstellungen, aus denen heraus sie besonnen, gelassen und wirksam handeln können. Systemische Grundhaltungen, die Menschen in verschiedenen professionellen Feldern gefunden, erforscht und vorgelebt haben. 

Einfache Rezepte versagen auf der Suche nach wirklich guten Entscheidungen, adäquaten Reaktionen und nachhaltigen Strategien für Führungskräfte, für Mitarbeiter*innen, für Mitmenschen in unseren täglichen Beziehungen zu Anderen und zu uns selbst. Es sind dann unsere Werte und Einstellungen, die einen weiten oder eben noch nicht so weiten Rahmen für unsere Anschlussfähigkeit, für unseren kreativ und rücksichtsvoll gestaltenden Umgang mit den Herausforderungen des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens setzen. Auf unseren jeweils ganz eigenen Wegen wachsen dabei natürlich letztlich unsere ganz persönlichen Haltungen – und doch, gemeinsames Lernen, gemeinsames Erleben, Räume für reflektierenden Austausch lassen uns auf diesen Wegen leichter und sicherer weitergehen.

Hier kommt zum Ausprobieren eine schlichte kleine systemische Übung zum Thema “Verflüssigen von Eigenschaften”

Diese Einstiegs-Übung machen wir im Rahmen unserer Masterclass in 2er-Teams. Ihr könnt sie aber auch alleine für Euch selbst durchgehen:

A) Denke an eine Deiner Eigenschaften, die Du an dir selbst nicht besonders gerne hast. Wie nennst du diese Eigenschaft? Notiere sie.
Wenn Ihr zu zweit seid: Nenne die Eigenschaft Deinem Gegenüber. Beschreibe kurz.

B) Geht gemeinsam oder für euch selbst durch diese und vielleicht weitere Fragen:

  • Was genau tust Du, wenn sich die Eigenschaft zeigt? Und was tust du noch?
  • In welchen konkreten Situationen hast Du dieses Verhalten in letzter Zeit gezeigt?
  • Welche Situationen fallen dir ein, in denen es sich weniger gezeigt hat?
  • Welche Bewertungen oder Rückmeldungen zu diesem Verhalten (unabhängig von der genannten Eigenschaft) hast von anderen Menschen gehört? Und von wem? Welche Deutungen und Erklärungen des Verhaltens kennst Du?
  • Gibt oder gab es Situationen oder Kontexte, in denen Du ganz anders reagiert hast? Zeigt sich manchmal die gegenteilige Eigenschaft? 
  • Wer möchte am meisten, dass du dein Verhalten änderst? Wer weniger?
  • Wann wurde entschieden, dass es ein Problem ist? Wer teilt diese Auffassung möglicherweise nicht?

C) Versuche eine neue Deutung deines Verhaltens zu finden.

  • Nimm mal an, Dein Verhalten und seine vielen Aspekte haben einen Sinn, eine Funktion. Welche könnten das sein? 
  • Welche Spannungen oder Probleme werden durch Dein Verhalten vermieden?
  • Was könnte durch eine Veränderung alles passieren oder zum Vorschein kommen?
  • Was müsste in diesem Fall neu gelöst werden? Welchen Preis hätte es und für wen?
  • Welche neue Aufgabe kommt auf Dich zu, wenn die Veränderung erfolgreich und wirksam geworden ist?
  • Auf welche Art könntest du die gleiche Eigenschaft auch als eine deiner Stärken beschreiben?

Diese systemische Methode ist inspiriert von: Simon, Fritz B. & Christel Rech-Simon: Zirkuläres Fragen. Systemische Therapie in Fallbeispielen. Ein Lernbuch. Carl-Auer-Verlag

Eine Session in der Masterclass hatte den Schwerpunkt Gefühle und Emotionen. Wie hängt das denn mit dem “Systemischen” zusammen?

Wirklich intelligente, innovative Lösungen erfordern aufs Neue, dass wir überkommene, verkrustete, simplifizierende Sichtweisen und Glaubenssätze erkennen und hinterfragen. Ebenso wie die Gewinnung neuer Perspektiven und die Übernahme anderer Standpunkte ist das eine kognitive Leistung und dann eben auch eine emotionale Herausforderung.

Eine größere Welt kommt gerne mit emotionalen Risiken.

Ein bewusster, kompetenter Umgang mit Emotionen und eine entspannte, rücksichtsvolle Sprache darüber – wichtige Voraussetzungen für Intelligenz, Freiheit und Verantwortlichkeit – kommen in unseren Lerngeschichten oft zu kurz und werden in vielen sozialen Kontexten vermieden. Bei Licht betrachtet wirken diese Kulturen nicht nur einschränkend, auch für Rationalität, für Intelligenz und Innovation, sondern sie sind unnötig belastend, manchmal stark belastend. Wir bereiten Menschen deshalb auch auf den Umgang mit emotionalen Prozessen, unseren jeweils eigenen und denen unserer Mitmenschen, vor. Der Bedarf ist groß.

Ich fand es spannend, dass wir mit den Teilnehmer*innen immer wieder an den Punkt kamen, dass es in den meisten Situationen um Auftragsklärung geht. Dass schwierige Situationen oder Konflikte oder auch ein Nicht-Weiterkommen sehr oft an einer schlechten oder gar keiner Auftragsklärung liegen. Was denkst du dazu? Und wie macht man eine gute Auftragsklärung?

Ein scheinbar triviales Thema. Es gibt aber unzählige Kontexte und Konstellationen der Zusammenarbeit, der Beratung, der Delegation von Zielen und Aufgaben. Zwischen Partnerunternehmen, zwischen Managerinnen und ihren Abteilungen, Unternehmensberatern und Kunden, Kanzlerinnen und Ministern, Ärztinnen und Patienten, ebenso zwischen Therapeuten und ihren Klienten.

Es ist ein universelles Risiko, dass dabei zu wenig in Klarheit und Vollständigkeit der Kommunikation bei der Aushandlung und Einigung auf die jeweiligen Rollen und Beiträge, auf Prioritäten, Zeiträume etc. investiert wird. Ambivalenz, Intransparenz, Überforderung und andere Tabuthemen werden nicht erkannt, iterative Neubewertungen bleiben trotz neuer Informationen aus. Dies kann zu hohen unsichtbaren Kosten mit schwer erkennbaren Ursachen führen.

Hier liegt auch ein möglicher Grund, wenn die beliebten Zielvereinbarungsstrategien oder fleißig geschriebene User Stories gelegentlich nur zu enttäuschenden Erfolgen führen. In der Ausbildung von Führungskräften, Berater*innen und Coaches lohnen sich hier eine Sensibilisierung für die Unwahrscheinlichkeit gelungener Kommunikation – und natürlich Strategien und Techniken für besseres Gelingen. Auf tieferen Ebenen können wir unterscheiden, aus welchen Quellen die verschiedenen Anteile unserer vielen Ziele und Aufgaben eigentlich stammen.

Welche Anteile kommen wirklich unmittelbar aus unserer aktuellen Tätigkeit und unseren beruflichen Anliegen? Welche von Menschen aus anderen Kontexten? Welche stammen aus unseren eigenen Vorstellungen, Projektionen und Vergangenheiten? Das wiederum kann dann tatsächlich auch jene Räume öffnen, in denen Menschen frei werden in Kontakt damit zu kommen, was sie eigentlich wirklich für wichtig befinden, was sie inspiriert. Systemische Auftragsklärung bietet Antworten auf die Fragen, wie stärkende, unterstützende Beziehungen, wie erfolgreiche Führung, wie Zusammenarbeit überhaupt gelingen können. Und hier und da dürfen wir die besondere Beobachtung machen, dass eine gelungene Klärung und Würdigung eines Anliegens paradoxerweise schon eine völlig hinreichende Lösung sein kann. 

Vielen Dank, lieber Nikolai fürs wunderbar gemeinsam Arbeiten und den Gedankenaustausch hier!

Für alle, die sich ins „Systemische“ einlesen oder auch weiter vertiefen wollen, empfehlen wir die wunderbare Buchreihe des Carl-Auer-Verlages, die von Grundlagen und Einführung bis zu sehr vielen und ganz unterschiedlichen Vertiefungsthemen reicht. Hier ist der Link. 

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