»Warum Manager öfter rot sehen sollten«

  • 10.07.2019
  • von Gastautor*in
Ein Artikel über Farbenlehre für Führungskräfte ...
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Karin Maria Schertler, Mitglied der Geschäftsleitung von Serviceplan und dort verantwortlich für die interne Unternehmensberatung der Agenturgruppe, ist Teil unserer Les Enfants Terribles-Community. Sie schreibt regelmäßig im Manager Magazin über New Work. Dieses Mal mit dem Schwerpunkt „Farbenlehre für Führungskräfte“.

In einem sind sich alle einig: Management im VUCA-Zeitalter ist eine anstrengende Sache. Daher ist die Verlockung groß, begierig nach dem neuesten Hammer (sprich: den neuesten Managementmethoden) zu greifen, in der naiven Annahme, dass jedes Problem ein Nagel sei. Und weil sich Manager immer weniger Zeit zum Reflektieren nehmen, mutieren sie zu gehetzten Akteuren – in der ebenfalls naiven Hoffnung, damit das Ziel schneller zu erreichen. Dabei wäre es viel wichtiger, einige praktische und leicht anwendbare Differenzierungswerkzeuge zur Hand zu haben, um eben nicht in diese Fallen zu tappen. Wer also mit seiner Zeit und Energie klug haushalten will, ist gut beraten, den Unterschied zwischen „Blau“ und „Rot“ zu kennen. Vorhang auf für die Farbenlehre der Transformation.

Neue Farbenlehre

Farben waren schon immer gute Orientierungshilfen. Rote und grüne Ampeln finden sich nicht nur im Straßenverkehr. Manche Unternehmen haben mit ihrer Marke eine Farbe regelrecht besetzt, um sich den Kunden ins Gedächtnis zu brennen, man denke an das Telekom-Magenta oder das Nivea-Blau. Auch in der Organisationsentwicklung gibt es Farbcodes, die helfen, Ausgangssituationen zu differenzieren, um dann die passende und wirkungsvollste Handlungsoption wählen zu können.

Die Kategorisierung nach Blau und Rot haben wir dem Systemtheoretiker Gerhard Wohland zu verdanken. Er hat damit zwei sehr unterschiedliche Problemkategorien beschrieben, deren Differenzierung im VUCA- und Transformations-Zeitalter zunehmend an Bedeutung gewinnt. Denn in der Tat besteht die Welt nicht nur aus Nägeln.

Blau steht für die Welt, die uns vertraut ist. Unter diesem Label findet sich alles, was eine lineare Kausalität aufweist: Aktion A führt zu Ergebnis B – auch bei der zehnten Wiederholung. Blaue Herausforderungen sind relativ stabil und gleichzeitig durchaus kompliziert – denken Sie etwa an ein defektes Uhrwerk, ein technisches Problem oder eine bevorstehende Steuerprüfung.

Rot dagegen steht für alles, was hoch dynamisch und komplex ist. In der roten Welt gibt es keine vorhersehbaren Kausalitäten, und somit führt Aktion A mal zu Ergebnis B, manchmal aber auch zu Ergebnis C oder D. Rote Probleme können sich zudem kontinuierlich verändern. Jeder, der schon einmal mit einem aufgebrachten Kunden oder der Einführung eines neuen Transformationsprojekts zu tun hatte, weiß, was gemeint ist.

Von Hammern und Schraubenziehern

Die zwei Farben definieren nicht nur unterschiedliche Ausgangsituationen oder Probleme. Sie differenzieren auch das Handwerkszeug, das zum Umgang mit diesen Szenarien am nützlichsten ist.

Die wenigsten Menschen würden auf die Idee kommen, eine lockere Schraube mit dem Hammer fest zu ziehen. Unter Managern ist es im Jahre 2019 jedoch weit verbreitet, rote Probleme mit blauem Werkzeug zu bearbeiten. Deshalb stoßen so viele Transformationsprojekte an ihre Grenzen und produzieren neben suboptimalen Ergebnissen jede Menge Frustration. Zunehmend lässt sich auch der umgekehrte Fall beobachten, nämlich dass blaue Probleme mit rotem Handwerkszeug angegangen werden („Wir machen das jetzt agil!“). Und dann wundert man sich, warum das vermeintliche New-Work-Heilsversprechen nicht aufgeht und man stattdessen nur ineffizienter wird.

Der Unterschied zwischen Können und Wissen

Zum blauen Handwerkszeug gehört vor allem Wissen. Ohne fundiertes Wissen lässt sich kein Uhrwerk reparieren, kein technisches Problem lösen und keine Steuerprüfung durchführen. Man analysiert und greift dann auf Bewährtes zurück. Lösungen fließen in Prozesse, Checklisten, Regelwerke und Handbücher ein. Projektpläne sowie stabile Strukturen und Hierarchien fördern die Effizienz. Die Leitfrage lautet: Wie geht das? Und so ist der Experte der König und das Wissen macht den Unterschied.

Das rote Handwerkszeug dagegen besteht vor allem aus Können, einer Mischung aus Kreativität, Intuition (ein gutes Gespür für die Situation), Talent und hoher Dialogkompetenz. Das ist es, was gefordert ist, wenn neue, bisher nie gedachte Quantensprunglösungen in einem hochdynamischen Kontext auf der Agenda stehen. Anstelle standardisierter Prozesse kommen agile Methoden ins Spiel: ausprobieren und beobachten in iterativen Zyklen. Anstelle von Regeln greifen Prinzipien, also sichtbar gemachte Haltungen. Denn eine Bedienungsanleitung zur Lösung der Ausnahmeprobleme gibt es nicht.

Rigide hierarchische Modelle stoßen an ihre Grenzen und werden ersetzt durch agilere Entscheidungssysteme und Organisationsdesigns. Führung erfolgt als soziale Legitimation im Sinne von Gefolgschaft: Es führt derjenige, dem andere folgen wollen. Entscheidungen und die daraus resultierenden Handlungen erfolgen unter Nichtwissen, das heißt, die genauen Folgen einer Aktion sind nicht vorhersehbar. Die Leitfrage lautet: Wer kann damit gut umgehen? Und so wird das interdisziplinäre Könner-Team zum König, und der Mensch macht den Unterschied.

Fatale Fehler und ihre Folgen

Nun ist die Realität meist deutlich vielschichtiger als die Theorie. Es gibt viele Situationen, die sowohl blaue als auch rote Bestandteile in sich tragen, etwa die globale Einführung einer mächtigen Standardsoftware bei einem Kunden. Ein anspruchsvolles Consulting-Projekt, für das einerseits sehr viel standardisiertes Fachwissen notwendig ist (blaues Problem) und gleichzeitig im Zusammenspiel mit dem Kunden eine hoch dynamische Melange aus Reaktanzen, Machtspielen, persönlichen Befindlichkeiten und Interdependenzen mit anderen Transformationsprojekten auf der Agenda steht (rotes Problem).

In solchen Konstellationen ist es umso wichtiger, sehr genau zu differenzieren und sein blaues und rotes Handwerkszeug an der jeweils richtigen Stelle gezielt einzusetzen. Denn wenn aus Unkenntnis oder Nachlässigkeit blaues und rotes Handwerkszeug vertauscht wird, passiert Folgendes: Für den blauen Anteil kommt eine mittelmäßige Lösung heraus, weil unabhängig von der Expertise alle mitreden – und die wahren Experten meist nicht zu den extrovertierten Vielrednern gehören. Gleichzeitig steigt der Frust aufgrund der Zeit- und Energieverschwendung, weil unnötig viele Diskussionen über die „richtige“ Lösung geführt werden, obwohl ein „Good Practice“ bereits existiert. Derweil fliegt der rote Anteil der Herausforderung dem Implementierungs-Team um die Ohren, weil man mit Plänen sowie dem Beharren auf Regeln und Standardprozessen versucht, komplexe Dynamiken zu managen – und dabei unweigerlich auf die Nase fällt.

Ein konkretes Praxisbeispiel

Wer wissen will, wie die Farbenlehre der Transformation in der Praxis erfolgreich angewandt wird, sollte exemplarisch einen Blick auf das Unternehmen Allsafe werfen. Detlef Lohmann, der geschäftsführende Gesellschafter des baden-württembergischen Herstellers von Ladungssicherungssystemen für Lkws und Flugzeuge, hat bereits vor mehr als zehn Jahren damit begonnen, systematisch und erfolgreich Wertschöpfungsverhinderungsmechanismen aus dem Weg zu räumen. Und er hat beim Entwickeln des optimalen Organisations-Setups der Versuchung widerstanden, alles über einen Kamm zu scheren. Stattdessen beobachtete er sehr genau, analysierte den jeweiligen Kontext und justierte immer wieder nach.

Zwei konkrete Beispiele: Das Organisationsdesign des primär rot geprägten Vertriebsprozesses orientiert sich heute stark am Netzwerkgedanken und dem Prinzip der Selbstorganisation. Einen Vertriebsleiter gibt es nicht, die Jahresziele definiert das Team eigenverantwortlich. Der Produktionsprozess dagegen trägt bei Allsafe deutlich mehr blaue Aspekte in sich. Die Organisation setzt daher konsequenterweise auf klare Strukturen und mehr hierarchische Elemente und hat einen geringeren Grad der Selbstorganisation gewählt – auch wenn dieser deutlich höher ausfällt als in manch konservativ geführter Organisation. So organisieren die Kollegen ihre Schichten beispielsweise selbst. Zudem wird viel Wert auf den systematischen Wissensaufbau mittels einer Skillsmatrix gelegt, um einen hohen Flexibilitätsgrad in der Produktion sicher zu stellen.

So hat jeder Bereich sein optimales Setup gefunden, rote und blaue Lösungen operieren gleichberechtigt nebeneinander. Und der Erfolg gibt dem Unternehmen Recht: Bereits vier Mal wurde Allsafe als Toparbeitgeber ausgezeichnet, der Gewinn steigt kontinuierlich.

Abschied von Aristoteles

Wir leben in einer Zeit, in der die roten Anteile der Welt signifikant zunehmen. Doch die blauen Anteile verschwinden nicht alle über Nacht. Somit ist die Differenzierungsfähigkeit zwischen roten und blauen Wertschöpfungsdomänen eine elementar wichtige Kompetenz, die uns herausfordert: Wir sind aufgefordert, bilingual zu werden und zwischen blauen und roten Handlungsoptionen zu oszillieren – je nach Anforderung. Immer in dem Bewusstsein, dass blaues Werkzeug nicht automatisch schlecht und rotes nicht automatisch gut ist. Anders formuliert: Der Schraubenzieher ist nicht von Natur aus besser als der Hammer.

Die Farbenlehre der Transformation lehrt uns, uns vom Aristotelischen Gedankengut im Sinne eines Entweder-oder zu lösen und uns stattdessen mit dem Sowohl-als-auch-Denken vertraut zu machen. Eine Haltung, die uns in vielen anderen Lebenslagen auch zugutekommt. Fangen wir am besten gleich heute damit an.


Dieser Artikel ist im Original hier im Manager Magazin online erschienen. Wer in unserem Magazin mehr von Karin lesen möchte, der kann das hier über „Management-Mythen“, hier über „Disruptions-Gerede“ und hier über „Kommunikation als Wertschöpfungskiller“ tun.

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