»Für mehr engagierte Demut«

  • 31.10.2018
  • von Marion King
Ein Interview mit dem Journalisten und ex-enorm-Mitgründer Marc Winkelmann über nachhaltige Digitalisierung ...
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Wir haben ein Interview mit Marc Winkelmann geführt, der sich seit zehn Jahren mit den Themen gesellschaftlicher Wandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Neues Arbeiten befasst. Er hat das Magazin “enorm” mitentwickelt und von 2013 bis 2017 als Chefredakteur geführt. Jetzt arbeitet er als freier Journalist und Autor.

Marc, du beschäftigst dich seit vielen Jahren u.a. mit dem Thema “Digitalisierung”. Wo stehen wir in Deutschland im Moment bei diesem Thema?

Das hängt von der Perspektive ab, mit der man auf das Thema blickt. Ich befasse mich derzeit vor allem mit der Frage, wie nachhaltig die Digitalisierung ist und was digitale Technologien zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen können. Da gibt es tolle Beispiele, etwa von Drohnen, die illegale Wilderer aufspüren oder Apps, die auf Fotos erkennen, ob jemand unterernährt ist. Und unsere Energie- und eine mögliche Verkehrswende wären ohne Digitalisierung nicht denkbar. Andererseits wurden die zwei Megatrends Nachhaltigkeit und Digitalisierung lange isoliert voneinander betrachtet und das ändert sich jetzt erst langsam. Was überfällig ist, denn vieles an der Digitalisierung ist nicht nachhaltig.  


Woran denkst Du?

Zum einen natürlich an Beispiele wie das von Facebook, die durch ihren naiven und fahrlässigen Umgang mit Kundendaten gezeigt haben, wie viel wir noch zu lernen und zu regulieren haben. Dazu gehört, dass Bildung bezüglich digitaler Fragen erst in den Kinderschuhen steckt und es sehr viel einfacher werden muss, sich als einzelner Bürger digital zu verteidigen. Zum anderen denke ich daran, dass Plattformkonzerne in Europa endlich ihren gerechten Anteil an Steuern zu zahlen haben oder dass es kaum IT-Geräte gibt, die fair gehandelt und grün hergestellt sind. Rohstoffe werden aus zweifelhaften Quellen bezogen, Hersteller drängen uns förmlich dazu, sich kurz nach dem Kauf eines Smartphones ein neues zuzulegen, und der Energieaufwand wird auch immer höher.


Aber es heißt doch vielfach, dass die Digitalisierung Ressourcen schont und wesentlich zur Effizienz beiträgt.

Dieser Glaube hält sich hartnäckig und mag für einzelne Unternehmen stimmen. Insgesamt betrachtet aber führt auch Wachstum im digitalen Bereich, den wir ja sehen, nicht zu einer „Dematerialisierung“, wie vielfach angenommen wird.


Sondern?

Sobald wir etwas einsparen können, neigen wir dazu, mehr davon zu nutzen und den Vorteil gleich wieder zunichte zu machen. Das ist der sogenannte Reboundeffekt.


Was heißt das konkret?

Nehmen wir das Streaming. Es hat die Herstellung von VHS-Kassetten und DVDs (fast) überflüssig gemacht, was klasse ist, weil das Ressourcen spart, niemand mit dem SUV zur Videothek fahren muss und so weiter. Die Kehrseite aber ist, dass wir jetzt so lange vor dem Bildschirm sitzen, bis Youtube und Netflix alle sind.


Was bei guten Serien ja auch Spaß machen kann…

Absolut. Nur ignorieren wir dabei, dass das Folgen hat. Streaming macht inzwischen mehr als 70 Prozent des globalen Traffics aus, Tendenz steigend, was enorm viel Energie frisst, die wiederum irgendwo produziert werden muss. Was nicht selten in dreckigen Kraftwerken passiert, die zur Erderwärmung beitragen. Oder im beruflichen Zusammenhang: Videokonferenzen könnten Dienstreisen ersetzen. Machen sie aber nicht. Die Zahl der Reisen nimmt zu – und die Videoschalten kommen noch obendrauf. Ein Forscher sagte mir, dass er keinen Bereich kennt, in dem die Digitalisierung signifikante Einsparungen gebracht hat. Für Rechenzentren ist das übrigens ein sehr lukratives Geschäftsmodell gerade. Ich habe neulich eins in Frankfurt besucht, das laut des Geschäftsführers um 25 Prozent pro Jahr wächst. Und das ist im europäischen Vergleich noch wenig. Die kommen mit dem Ausbau gar nicht hinterher.


Du hast eingangs mehrere Themen angesprochen, vom Umgang mit Kundendaten bis zur Gewinnung der Rohstoffe für IT. Sind das Themen, mit denen sich Unternehmen beschäftigen müssen, um zukunftsfähig zu bleiben?

Ich denke schon, denn es sind Fragen, die früher oder später nicht nur Facebook, Amazon und Google gestellt werden, sondern auch deutschen Mittelständlern, die jetzt dabei sind, ihre Kühlschränke, Klimaanlagen und Türschlösser mit Sensoren ans Internet anzuschließen. Viele Firmen scheinen das aber noch nicht auf dem Schirm zu haben. Die Diskussion, die unter dem Begriff “Corporate Digital Responsibility” geführt wird, beginnt gerade erst.


Das macht den Wandel der Wirtschaft allerdings noch komplexer. Glaubst Du nicht, dass Manager sich davon überfordert fühlen werden?

Doch, ganz gewiss. Aber daran führt leider kein Weg mehr vorbei. Alle sind überfordert: Bürger, User, Manager, Politiker … Das müssen wir akzeptieren und lernen, damit umzugehen. Und dann schauen, wie wir Antworten finden, eben auch auf die Fragen, über die wir hier gerade sprechen.


Wie geschieht Veränderung – in Unternehmen, in Organisationen, in der Gesellschaft? Was braucht es, dass sich Dinge (nachhaltig) verändern?

Wenn ich darauf eine Antworte hätte … Ich finde es bemerkenswert, als wie schnelllebig unser Leben heute beschrieben wird – der Wandel hin zu einer neuen Arbeitswelt und einer tatsächlich nachhaltigen Gesellschaft aber quälend langsam verläuft. Wir müssen uns klarmachen, dass die Disruption, die vom Internet ausgeht, auf sehr mächtige menschliche Gewohnheiten und Konsummuster trifft, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte geprägt wurden. Das legen wir nicht innerhalb von ein paar Jahren ab, auch wenn es – wie beim Klimawandel – sehr, sehr wünschenswert wäre. Ich glaube, dass wir uns noch mehr in engagierter Demut üben müssen. Soll heißen: beharrlich dranbleiben, aber wohlwissend, dass nichts so schnell passiert, wie man es sich wünscht. Und noch etwas fällt mir auf.


Nämlich?

Wir sprechen – wie ich eben – immer von Disruption. Alles wird auf den Kopf gestellt, heißt es, und das stimmt in vielerlei Hinsicht ja auch. Der Kerngedanke unserer Wirtschaft aber, wonach es um ein stetiges Wachstum gehen muss, bleibt unangetastet. Auch digitale Unternehmen wollen größer werden, Macht ausüben, ihren Umsatz und Gewinn verdoppeln und verdreifachen, andere Firmen kaufen und so weiter. Darin unterscheidet sich die neue Economy nicht von der alten. Doch ob das nachhaltig für uns und unseren Planeten ist, muss bezweifelt werden.


Was bedeutet “New Work” für dich? Gibt es für dich einen Unterschied zwischen “neuem Arbeiten” und “gutem neuem Arbeiten”?

Eine für mich wichtige Grenze verläuft dort, wo es um den glaubwürdigen Umgang mit dem Thema geht. Wenn Vorgesetzte beschließen, „New Work“ einzuführen oder aus einer natürlichen Entwicklung heraus darauf kommen, dass gewisse neue Philosophien, Abläufe oder Tools geeignet für sie wären, dann sollten sie das stets kritisch und selbstkritisch tun. Längst nicht alles, was als „New Work“ daherkommt, passt auf jede Organisation. Nicht jede Idee ist sofort oder auch langfristig geeignet für jede Firma. Wer also überlegt und analysiert, woran es gerade hakt, was er oder sie erreichen will und welche Veränderungen dafür nötig sind und sich selbst dabei nicht zu sehr in den Mittelpunkt rückt, der macht aus meiner Sicht einiges richtig. Vor allem, wenn er oder sie diese Reihenfolge einhält.


Was glaubst du, ist die Zukunft des Journalismus?

Eine Entwicklung, die ich für zukunftsweisend halte, ist die Idee des sogenannten „konstruktiven Journalismus“. Der Begriff ist nicht ideal, aber dahinter steht das berechtigte Anliegen, weniger über negative Ereignisse zu berichten, die zusammengenommen den Eindruck hinterlassen, dass die Welt ein durch und durch furchtbarer Ort ist. Stattdessen bekommen Menschen, Initiativen, Organisationen oder Unternehmen eine größere mediale Bühne, die Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu bieten haben. Davon gibt es viele, die immer noch nicht genug Beachtung finden. Und das trägt dazu bei, dass sich Leser, Zuschauer, User, Zuhörer ein ausgewogeneres Bild unserer vielfältigen Gesellschaft machen können.


Bist du ein Enfant Terrible? Und wenn ja, wieso?

Ich hätte mich nie als solches bezeichnet. Aber ich versuche, hier und da andere Blickwinkel einzunehmen, und wenn Du damit meinst, dass ich ein „Enfant Terrible“ bin, dann nehme ich das gerne an (lacht).

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