»Lieblingsorte«

  • 18.12.2019
  • von Gastautor*in
Über Lieblingsorte und Räume, in denen wir sein wollen ...
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Letztes Jahr war ich das erste Mal wandern, am Grünen Band. 1335 Kilometer, von der Ostsee über Elbdeiche, den Harz, die Rhön, Thüringer Schiefergebirge bis nach Sachsen. Wem das Grüne Band nichts sagt, dem sagt der Blick auf die Karte wahrscheinlich etwas.

Grünes Band Deutschland: knapp 1.400 km von der Ostsee bis nach Sachsen

Das Grüne Band ist die ehemalige innerdeutsche Grenze. Weil ich aus Sachsen komme, bin ich dort losgelaufen. Von Adorf im Vogtland in 49 Etappen bis nach Boltenhagen an der Ostsee.

Und als ich in Boltenhagen ankam, wollte ich eigentlich weiterlaufen. Was ein bisschen an Boltenhagen liegt. Aber vor allem an einer Nebenwirkung, die das lange Wandern allein auf mich hatte und bis heute hat: ich will nicht mehr aufhören.

Und es gibt noch eine zweite Nebenwirkung: ich habe angefangen, mich sehr intensiv mit den Orten zu beschäftigen, an denen ich bin und war. Mit Orten wie eben der Grenze letztes Jahr. Und zu spüren, was diese Orte mir bedeuten, wie sie mich prägen. Klingt vielleicht komisch, aber ich habe immer so getan, als spielte es keine Rolle, wo ich bin oder herkomme. Ich habe die letzten Jahre, die ich im “Westen” wohne — mein halbes Leben — so getan, als spielt es keine Rolle, woher ich komme. Das hole ich jetzt mal nach.

Ich komme aus Dresden und lebe in Köln. Auf der Karte ist das eine ziemlich gerade Linie mitten durch Deutschland. Und dieses Jahr habe ich mich gefragt, ob man die nicht auch wandern kann — siehe Nebenwirkung #1. Und ihr ahnt es: man kann.

Von Dresden nach Köln: 685 Kilometer in 25 Tagen; einmal quer durch Deutschland

Genannt habe ich das Ganze Lieblingsorte, denn genau die suche ich. Also Orte, die auf irgendeine Art und Weise besonders sind. Ich wollte rausfinden, was es dafür braucht, dass ein Ort zum Lieblingsort wird.

Und weil ich schon mal unterwegs war, hab ich mir gedacht, frage ich unterwegs ein paar Leute nach ihren Lieblingsorten. Und weil ich Bock drauf hatte, und NUR, weil ich Bock drauf hatte, habe ich dazu einen Podcast gemacht, der genau so heißt.

Dresden: Wie sich Starten anfühlt

Interview mit Yvonne vom Konnektiv 62 in Dresden (Trailer)

Los ging es in Dresden. Dort habe ich im Konnektiv 62 Yvonne getroffen, die eine der Gründerinnen ist. Das Konnektiv versteht sich als Ort für Verbindung, als Wirkraum. Der fällt nicht vom Himmel. Yvonne hat mir erzählt, wie es sich anfühlte, zu starten.

Ok. Raus. Es kommt was Neues. Egal was, man weiß nicht was, aber es kommt was. Diese Entscheidung zu treffen und loszulassen.

Losgehen. Den ersten Schritt machen. Das ist alles, was es braucht: ein erster Schritt reicht häufig schon, um die Resonanz zu spüren, die man braucht, um dann weiterzugehen.

Gödelitz: Andere Perspektiven gewinnen

Interview mit Wiebke auf Gut Gödelitz (Trailer)

Dazu gehört auch, aus der eigenen Komfortzone auszubrechen. Andere Perspektiven kennenzulernen.

Auf Gut Gödelitz habe ich die freischaffende Künstlerin Wiebke getroffen. Gut Gödelitz ist auch der Sitz des Ost-West-Forums, das sich überparteilich für den Dialog einsetzt. Insbesondere junge Menschen werden eingeladen, im Rahmen der Werteakademie andere Perspektiven kennenzulernen. Was das für Wiebke bedeutet, außerhalb von Kunst und Kultur, erklärt sie so:

Was ist MIR eigentlich wichtig, in was für einer Gesellschaft möchte ICH leben? Dafür bin ich total empfänglich geworden und mache mir auch viele Gedanken darüber.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile und Wiebkes Lieblingsort steht für mich genau dafür.

Leipzig: Streiten lernen

Interview mit Christoph auf dem Wagenplatz Toter Arm bei Leipzig (Trailer)

Südlich von Leipzig bin ich außerhalb meiner Komfortzone gewesen. Dort habe ich Christoph getroffen. Er lebt auf dem Wagenplatz Toter Arm in Markkleeberg, wo ich freundlicherweise auch im Gästewagen übernachten durfte. Auch von Christoph war ich extrem beeindruckt. Er kommt ursprünglich aus Köln und lebt schon lange in Leipzig. Ich habe selten Menschen aus dem Westen getroffen, die dieses Thema so tief reflektiert haben.

Und ihn habe ich wie alle meine Interviewpartner gefragt, was wir tun können, um aufeinander zu zugehen.

Ich glaub, man muss einfach lernen, besser miteinander streiten zu können und Konflikte besser prozessieren zu können als es unsere Gesellschaft gerade schafft.

Streit ist nichts anderes als Potenzial und das können wir nutzen.

Weimar: Verantwortung übernehmen

Interview mit Line und Andreas für den Alte Feuerwache e.V. in Weimar (Trailer)

Der nächste Ort ist Weimar, mein absoluter Lieblingsort. Und in Weimar wie auch in vielen anderen Ost-Städten ein Phänomen: leerstehende Gebäude. Tolle, wunderschöne alte Gebäude, die schon lange stehen. Zum Beispiel auch die Alte Feuerwache in Weimar.

Was häufig mit solchen Orten passiert ist, dass sie platt gemacht werden und irgendein Tiefgaragenhausding drauf gesetzt wird, das vielleicht auch ein Ort ist, aber noch lange kein Lieblingsort.

In der alten Feuerwache habe ich Line und Andreas getroffen. Die setzten sich mit vielen anderen dafür ein, dass das Potenzial dieses Ortes freigesetzt wird. Letzten Monat konnte der Verein mit einem Konzept tatsächlich die Alte Feuerwache kaufen, so dass hier keine teuren Exklusivwohnungen entstehen, sondern bezahlbarer Wohnraum mitten in Weimar.

Line erzählt, was daran so besonders ist.

Hier gestalten die Leute die darin WOHNEN ihren eigenen Wohnraum und übernehmen dann auch Verantwortung dafür.

Nicht drauf warten, dass es vom Himmel fällt, sondern den Arsch hochkriegen und was bewegen. Das ist Verantwortung.

Erfurt: Mehr als ein Ort

Interview mit Inga für den Kulturquartier Altes Schauspielhaus e.V. in Erfurt (Trailer)

Nächste Station: Erfurt. Gleiche Situation, ein seit den Neunzigern leer stehendes Gebäude, das Gottseidank unter Denkmalschutz steht. Dort habe ich Inga getroffen.

Inga ist Gründungsmitglied des Vereins Kulturquartier Erfurt, Altes Schauspielhaus. Der Verein und die Genossenschaft machen sich dafür stark, einen Raum für Kunst und Kultur zu schaffen, und Inga erlebt immer wieder hautnah, was es bedeutet, dass hier nicht irgendein Ort entsteht, sondern eben das alte Schauspielhaus:

Und alle finden das Haus geil. Und jeder aus einem anderen geschichtlichen Kontext heraus. Und das ist schon irgendwie was Magisches.

Am Grünen Band: Emotion & Wanderkrise

Interview mit mir — am Grünen Band (Trailer)

Jetzt folgt: Emotion. Emoschen. Irgendwo auf dem Weg zwischen Dresden und Köln musste ich unweigerlich über die Grenze kommen. Zufällig war das einer meiner Lieblingsorte aus dem letzten Jahr: der Vogelpark Rhäden in der Nähe von Dankmarshausen.

Alles prima also, ich wusste was kommt, kannte ich schon. Doch es kam komplett anders. Ich bin in die krasseste, tiefste, schwärzeste Wanderkrise gelaufen, die ich je (also in 2 Wanderungen) hatte. Ich konnte und wollte nicht mehr weiter, und das Schlimmste: ich wusste noch nicht mal, woran das eigentlich liegt.

Gleichzeitig konnte ich mich aber auch nicht entschließen, aufzuhören. Ich kann ja hier auch schlecht von meiner Wanderung von Dresden nach Dankmarshausen erzählen. Also hab ich am nächsten Tag den Rucksack gepackt. Dachte, zum Vogelpark kann ich ja noch laufen und dann nach Köln fahren. Ticket hatte ich schon gebucht. Und als ich am Rhäden war, dachte ich, kann ja auch nach Bad Hersfeld laufen, ist kürzer nach Köln. Also eine Etappe noch.

Bin losgelaufen, und war immernoch damit beschäftigt, mich zu fragen, was zum Teufel eigentlich los ist. Ich bin ein Sprechdenker, und hab eine Folge für den Podcast aufgenommen. Und dann kam das hier:

Ach. Und soeben komme ich um eine Kurve und laufe auf besagtes Grünes Band und stehe jetzt auf dem Kolonnenweg. Hm. Na das ist doch mal was .. (lange Pause) .. Ja der Kolonnenweg, das ist .. das sind so die Überreste der Grenze.

Das war der Punkt, an dem ich kapiert habe, wie viel die Grenze für mich bedeutet, und wie viel mehr sie für diejenigen bedeutet, die sie erlebt haben. Und die Wanderkrise war genau das, was ich gebraucht habe, um das wahrzunehmen.

Amöneburg: Mensch zu Mensch

Interview mit Pfarrer Vogler in der Stiftskirche Amöneburg (Trailer)

Kurz vor Marburg, in der Stiftskirche Amöneburg hatte ich die Möglichkeit, Pfarrer Marcus Vogler zu interviewen. Wir haben viel über christliche und im Osten eben häufig nicht-christliche Sozialisation gesprochen. Dazu gehört übrigens auch, dass ich vor dem Gespräch dachte, Pfarrer wären immer evangelisch.

Und auch sonst für mich ein extrem wertvolles Gespräch voller Aha-Erlebnisse. Zum Beispiel, dass der Pfarrer als Kind von der anderen, der westlichen Seite, die Grenze auch als „Ende der Welt“ empfunden hat.

Und er hat formuliert, was viele meiner Gesprächspartner so ähnlich formuliert haben:

Dass ich erst mal den Menschen als Mensch sehen, nicht erstmal: Wo kommt der her? Wo sind die Unterschiede?

In Weimar stand an einer Hauswand: Heimat ist da, wo Du Dich nicht erklären musst. Ich glaube, mit Lieblingsorten ist es ganz ähnlich.

Marburg: Bock haben

Interview mit Björn vom Bifroest Kulturförderung e.V. in Marburg (Trailer)

Noch am selben Tag bin ich von Amöneburg weiter nach Marburg gewandert, wo ich Björn getroffen habe. Björn ist der Mitgründer eines Metal-Festivals. Und Björn bringt auf den Punkt, warum er sich im Bifroest Kulturförderung e.V. engagiert:

Unser Fokus liegt eigentlich immer darauf, zu sagen, wir wollen was machen also erstens worauf wir Bock haben. Wenn Du Lust hast, deine Lieblingsband nach Marburg zu holen, dann machen wir das.

Lieblingsorte entsehen nicht, weil ich irgendwas mache, sondern weil es etwas ist, an dem mein Herz hängt.

Siegen: Alles teilen

Interview mit Enis in Siegen (Trailer)

Und das bringt mich zu Enis. Enis ist jemand, der sich praktisch für zehn engagiert. Critical Mass, Foodsharing, Zero Waste, alles, was wir geil und richtig finden, macht Enis. Und vor allem geht es ihm ums Teilen. Er hat mir erzählt, was ihm dabei am Wichtigsten ist:

Also man kann einfach alles teilen, was man sich selber ausdenken kann. Und da geht es wirklich darum, selbstbestimmt bedingungslos zu teilen. Dieses Selbstbestimmte ist für mich sehr wichtig.

Denn auch das ist etwas, das mir unterwegs immer wieder begegnet ist: niemand von all diesen Menschen erzählt von einem Ort, an dem er sein muss: sondern immer von Räumen, an denen sie sein WOLLEN.

Köln: Geht’s denn nicht auch anders?

Interview mit Henriette in Köln, Brüsseler Platz (Trailer)

Und das wiederum bringt mich zum Hier und Jetzt. In Köln habe ich mit jemandem gesprochen, den ihr hier alle kennt. Henriette Frädrich, die Initiatorin des Geile Uschi Kongress. Sie hat mir erzählt, woher sie kommt, wie sie tickt, und wahrscheinlich auch: warum wir heute alle hier sind.

Ich werde niemals in meinem ganzen Leben hinter diese Mauer gehen können. Ich werde niemals in meinem ganzen Leben wissen, was dahinter ist. Das ist jetzt im Nachhinein das Erschreckende, wie normal das ist. Und das regt mich ja auch immer wieder an, auch immer wieder die Normalitäten und die Wahrheiten, in denen ich lebe, schon mal zu hinterfragen: warum muss das so sein, geht’s denn nicht auch anders?


Ich bin losgezogen, um Lieblingsorte aufzuspüren, irgendwo zwischen Dresden und Köln, zwischen Ost und West. Herauszufinden, was es braucht.

Diese Lieblingsorte sind Orte, an denen man spürt, dass da mehr ist als 4 Wände. Egal, ob es um Musik, Ideen, Glaube, Kunst, Arbeit, Politik, oder was auch immer geht.

Meine Gesprächspartner haben mir ein paar Zutaten genannt:

Mut — Horizonterweiterung — streiten — Verantwortung — Verbindung — Emoschen — Menschen — Bock — selbstbestimmt — hinterfragen

Es geht nicht um den Ort, sondern immer um die Menschen. Wir gestalten das, niemand sonst. Wenn wir etwas bewegen wollen, müssen wir anfangen, die Orte zu gestalten und gemeinsam zu Lieblingsorten zu machen.

Die vollen Folgen könnt ihr im Lieblingsorte-Podcast hören — diesen findet ihr auf den üblichen Plattformen, hier findet ihr alle Links.


Dieser Artikel ist das Transkript des Vortrages, den Anja am 26.10.2019 auf dem ersten Geile Uschi-Kongress in Köln* sprechen durfte und zuerst auf medium.com veröffentliche.

*Wie jetzt, Geile Uschi? Ja. Henriette erklärt es so:

Wer oder was ist eine “geile Uschi”?! “Geile Uschi“ ist ein selbstironisches Kompliment an all die tollen, großartigen Frauen, die geradlinig ihren Weg gehen, ihr Ding machen, die sich nicht scheuen, zu polarisieren und zu provozieren, die Haltung und Meinung haben, für ihre Sache kämpfen und einstehen, die unbequem sind, mutig, Herz und Hirn gleichermaßen einsetzen, die echt sind, wahrhaft, authentisch und noch so vieles mehr.


@maigut.fotograf

Anja Kässner ist Workshopmacherin und Digitalstrategin aus Köln. Die Diplom-Informatikerin (FH) liebt Kollaboration, vor allem dann, wenn es um komplexe Themen wie die digitale Transformation geht.

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